Vernissage Lukas Gerber, 8. September 2018

Rede von Renate Bader-Reading

 

„Ein Vogel singt nicht, weil er eine Antwort hat, er singt, weil er ein Lied hat.“

Dieses Zitat, das zuerst Maya Angelou zugesprochen wurde (und so sogar auf einer amerikanischen Briefmarke erwähnt wird) ist von der Dichterin und Kinderbuchautorin Joan Walsh Anglund und trifft für mich den Kern dieser wunderschönen Bildersammlung von Lukas hier. Dass Lukas ein Lied hat, das er mit der Welt teilen kann (und zu unserem Glück geteilt hat) ist hier mehr als deutlich zu sehen. Und dass er dazu die Metapher des Vogels gewählt hat, ist ebenso passend.

Als ich die Bilder zum ersten Mal sah, da berührten mich vor allem die wunderschönen Vögel. Vögel gehören wohl zu den faszinierendsten Wesen, die unsere Erde bevölkern. Sie scheinen die ultimative Freiheit zu besitzen und der Mensch hat von jeher mit Neid und Bewunderung auf ihren Flug über den Wolken geblickt. Kein Wunder also, dass der Vogel in vielen Kulturen als Symbol der Seele gilt oder zumindest als Symbol für die jenseitige Welt, die Welt der Hoffnung, der Sehnsucht. Hildegard von Bingen schrieb in ihren naturkundlichen Betrachtungen „Physika“ „Mit ihnen (den Vögeln) muss die Seele fühlen und wissen, was sie zu wissen hat, weil die Vögel durch ihre Federn in die Höhe getragen werden und sich überall in der Luft aufhalten. So wird auch die Seele, so lang sie im Körper verweilt, durch die Gedanken emporgehoben und breitet sich all um uns aus. Die Vögel, die sich in der Luft aufhalten, stellen die Fähigkeiten des Menschen dar, sich in seinen Gedanken vieles vorzusagen und zu bestimmen, was er in sich erwogen hat, ehe er all dies in ein offenkundig Werk umsetzt“. Auch C.G. Jung meinte, sie, die Vögel seien als beschwingte Wesen seit jeher ein Sinnbild und Symbol des Geistes und des Gedankens (GW 13 S. 321)

Vögel haben unterschiedlichste Bedeutungen in Mythologie, Religion und Tradition. So gilt die Taube zum Beispiel als Symbol für den Heiligen Geist, Aphrodite oder den Frieden, Krähen und Raben sind Boten des Todes, aber auch Boten der Weisheit wie z.B. die Raben Odins in der nordischen Mythologie Hugin („Gedanke“) und Mugin („Erinnerung“), die Odin halfen die Welt zu erkennen, versteckte Dinge an die Oberfläche zu bringen und zu Erkenntnis zu gelangen. Die Krähe, die hier auf Lukas Bild „aufschreckt“, „mahnt“, und uns daran erinnert, dass „wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“, ist somit ein passender visueller Ausdruck dieses Zitats von Wittgenstein, der uns daran erinnert, dass es Dinge gibt, die wir nicht sagen können sondern nur zeigen.

Der Falke hat vor allem in der ägyptischen Mythologie einen wichtigen Platz als Sinnbild und schliesslich gar Personifizierung von „göttlicher und majestätischer Macht“, als „Botschafter zwischen irdischen und nicht irdischen Welten“, majestätisch und kraftvoll. Hier sitzt er „ruhend auf der goldnen kugel jederzeit bereit der flügel die entfaltung zu gewähren“. Man kann die Kraft dieses Falken hier geradezu spüren, sehen, fühlen und wenn Lukas‘ Gedicht der Falke mit spitzem Schrei abhebt, seine Schwingen kräftig schlagend, so seh ich das vor mir, obwohl er hier noch immer sitzt, majestätisch und göttlich.

Die Eule wiederum mit ihren lautlosen Flügelschlägen in der Nacht „mit flügelschlägen, die nicht schallen“, ihrem charakteristischen Ruf Uhu und ihren scharfen Augen, mit welchen sie ihre Beute überraschend erlegen kann (Lukas beschreibt es so: „ihre messerscharfen augen sichten lange schon die ahnungslose maus“), wird oft als Wesen der Weisheit, aber auch als Wesen der Magie und Zauberei in der Mythologie betrachtet und in vielen Traditionen auch Todesbotin „fährt der todesengel seine krallen aus“.  Sie erinnert an die Fragilität unseres Lebens, an die konstante Nähe des Todes und ist doch mit ihrer eindrücklichen Gestalt gleichzeitig ein Bild für Glück und Schönheit.

Der Adler schliesslich gilt als der majestätischste Vogel schlechthin. Seine Flügel können sich zwischen 1.80 und 2.40 m ausbreiten und verursachen ein mächtiges Rauschen, das Ehrfurcht und Staunen ins uns auslöst. Die Ogala-Sioux sahen im Adler die Gegenwart des Grossen Geistes. Die Flügel der Engel sind ebenfalls Adlerflügel. Er steht in der Mythologie für die Kraft der Sonne und in der christlichen Tradition wurde er zum Symbol für Auferstehung, Erlösung und ewiges Leben, weil er „angeblich beim Auffliegen in die Sonne sehe,“. In der keltischen Mythologie sass der Adler auf der Weltenesche Yggdrasil und beobachtete die Vorgänge der Welt. Viele Götter haben die Form des Adlers angenommen so auch Odin und Zeus/Jupiter und ausserdem ist er in vielen Wappen und Fahnen das Symbol für Mut, Kraft und Freiheit.

Mit diesem kurzen Exkurs in die Welt der Vögel habe ich nur die Oberfläche gestreift und nur einen Teil dieser Vögel erwähnt. Mir persönlich hat zum Beispiel auch der Star besonders gefallen, der keine grosse Bedeutung in der Welt der Symbolik oder Mythologie einnimmt und mich doch fasziniert durch sein purpurnes glänzendes Federwerk und seine leuchtenden Augen. Er ist ein sehr soziales Tier, gesellig und geschwätzig, kann also gut sein, dass ich mich deshalb so zu ihm hingezogen fühlte.

Was aber ist denn das „Lied“, das Lukas hier durch diese Vögel singt? Natürlich wird jeder und jede, die hier diese Bilder ansehen ein anderes Lied hören. Einige werden sich zu dem einen, andere zum anderen Bild hingezogen fühlen. So wie der Star mich angezogen hat, so wird Sie vielleicht ein anderer Vogel, ein anderes Bild, anziehen, Ihnen sein spezielles eigenes Lied singen. Wie Lukas so schön im Gedicht über die Amsel schreibt: „im singen wächst die spanne zwischen jetzt und jetzt im raume zwischen vers und vers der strophe“.

Lukas hat seine Ausstellung „weltinnenraum“ genannt, einen Begriff, den er aus dem Gedicht „Es winkt zur Fühlung“ von Rilke genommen hat. „Durch alle Wesen reicht der eine Raum: Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still durch uns hindurch. O, der ich wachsen will, ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum“. Die Vögel verbinden alle diese 12 Bilder, sie verbinden diesen Raum, verbinden den Raum zwischen uns und um uns, symbolisieren auf unterschiedliche Art uns alle, im Raum verbunden, ein Teil desselben Universums, zusammengesetzt von denselben Elementen, im Tod zurückkehrend zu derselben Erde, im selben Schicksal zwischen Geburt und Tod verbunden. Die verschiedenen Gedankenstrukturen, die wir uns schaffen, um unsere Welt zu ordnen, die rationalen Gitter, die uns Orientierung geben und Halt, uns manchmal aber auch einschränken, beschränken, vielleicht zurückhalten und abgrenzen voneinander, uns selbst als getrennte Wesen wahrnehmend, werden von den Vögeln durchflogen, sie fliegen aus ihnen heraus, transzendieren diese Einschränkungen, verbinden uns alle im selben Weltinnenraum. Hier irgendwo gibt es eine Weisheit, eine Erkenntnis, die die gewöhnliche Ratio übersteigt, die das Gitter, das uns manchmal einengt, durchbricht, Raum und Zeit überschreitet und uns ermöglicht uns in andere Sphären aufzuschwingen, vogelgleich, glitzernd unser eigenes Lied zu singen.

Das ist für mich das Lied, das ich hier höre. Es ist keine Antwort. Es ist ein Lied, das jeder von uns, der sieht, hört und sich öffnet, hören kann auf seine ganz eigene Art.

Viel mehr möchte ich nicht sagen. Die Bilder sprechen (oder eben singen) für sich selbst. Darum möchte ich mit dem Gedicht von Lukas zu den Störchen enden:

 

zur sonne kreisen

gedankenstriche in spiralen

werden dünner

bis sie ganz verschwinden

der rest ist schweigen