weltinnenraum


Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

(Rainer Maria Rilke, 1914)

„Die Vögel fliegen still durch uns hindurch.“ schreibt Rainer Maria Rilke (1875–1926) im Gedicht Es winkt zu Fühlung. Die Vögel verbinden Aussen und Innen, durchfliegen den Weltinnenraum, der durch alle Wesen reicht.  

Im Vers „O, der ich wachsen will, / ich seh hinaus und in mir wächst der    Baum“ wohnt die Botschaft der Innerlichkeit, die sich auch bei Henry David Thoreau (1817–1862) findet, der sich 1845 über zwei Jahre in eine Waldhütte am Waldensee (Massachusetts) zurückzog:

Nach innen kehr dein Aug und du wirst finden

An tausend unerforschte Regionen

Bereise sie und werde wohl bewandert

In deiner eignen Heimatweltenkunde.

    (Aus: H. D. Thoreau: Walden)

 Rilke jedoch integriert das Paradox von Äusserlich- und Innerlichkeit, von Hinausschauen und Hineinsehen: „Ich seh hinaus und in mir wächst der Baum“, im Inneren spiegelt sich das Äussere – und umgekehrt.

Mit Rilkes Gedicht verbindet sich Thoreaus Botschaft, den Weltinnenraum zu erforschen, zu durchwandern respektive zu durchfliegen, sich innerlich auszudehnen, weit zu werden und zu wachsen.

Auch der US-amerikanische Dichter James Applewhite (*1935) fordert dazu auf:

Wachse in dein eigenes Gefieder, strahlend,

damit jeder Baum zu einer wundersamen Stadt wird.

    (Aus: James Applewhite: Gebet für meinen Sohn)

In vielen Kulturen steht der Vogel seit Urzeiten für die Seele, den Traum des Fliegens, für Transzendenz und die Sehnsucht nach Freiheit:

In unserer Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit identifizieren wir uns selbst mit dem Flug der Vögel. In unserer Fantasie transzendieren wir die gewöhnliche Welt, heben ab und werden schwerelos. Wir bekommen Flügel. „Hoffnung ist ein Ding mit Federn“ sagt Emily Dickinson. Platon erklärte: „Die Funktion von Flügeln ist, Schweres hoch zu tragen, in die oberen Regionen, in denen die Götter wohnen.“

    (Aus: Das Buch der Symbole. Betrachtungen zu archetypischen Bildern)

Diese Sehnsucht wird von J. W. von Goethes (1749–1832) Faust eindrücklich zum Ausdruck gebracht:

Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht

Kein körperlicher Flügel sich gesellen.

Doch ist es jedem eingeboren,

Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,

Wenn über uns, im blauen Raum verloren,

Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;

Wenn über schroffen Fichtenhöhen

Der Adler ausgebreitet schwebt,

Und über Flächen, über Seen,

Der Kranich nach der Heimat strebt.

    (Aus: Faust. Der Tragödie erster Teil)

Und doch werden wir immer wieder zur Erde zurückgerufen, die Gravitation obsiegt, wir kommen auf den Boden zurück. Je höher der Flug, desto tiefer der Fall, dies vermittelt der Mythos von Ikarus und Dädalus: Auf der Flucht von Kreta, aus dem Labyrinth des Minotaurus, fliegt Ikarus trotz Warnung seines Vaters zu hoch, die Hitze der Sonne schmilzt das Wachs, welches die Federn seiner Flügelkonstruktion zusammenhält, sodass dieser ins Meer stürzt und stirbt.


Zur Sonne wollen wir, zur Erkenntnis, Erleuchtung – und verbrennen uns dabei wie Ikarus die Flügel.

Die unsanfte Landung auf dem Boden der Tatsachen ist jedoch auch heilsam, können wir uns doch in der Entgrenzung, „im blauen Raum“, heillos verlieren. Zuviel Thermik macht übermütig. Und da hilft die Vernunft. Sie strukturiert, begrenzt, vermisst, begreift. Der Begriff hält fest, gibt Halt.

Meine Bilder stehen in diesem Spannungsverhältnis von Entgrenzung und Begrenzung.

Als Idealbild ist jeder Vogel als Vertreter seiner Gattung in seinem Wesen perfekt, abgeschlossen, in sich ruhend. Im Vogel manifestiert sich unsere Sehnsucht nach Verwandlung und Vervollkommnung. Frei ist der Vogel natürlich nur in unserer Idealisierung.  

Im Hintergrund steht immer die Struktur, ein Koordinatensystem, ein Gitter. Das Gitter engt ein, gibt aber auch Schutz und Bedeutung, ein Bezugssystem. Es grenzt ab, sperrt, unterteilt, durch das Gitter entsteht ein Vorder- und Hintergrund. Es strukturiert den Raum. Es hat offene Zwischenräume, die es genauso festlegen wie die gekreuzten Lagen seiner Materialität.  

In diesem Gitter ist die Sprache zuhause. Der rumänische Dichter Paul Celan (1920–1970) hat einen seiner Gedichtbände „Sprachgitter“ genannt. Man könnte auch von Denkgitter sprechen: „Ich denke also bin ich“ ist bekanntlich die rationalistische Definition des Bewusstseins nach René Descartes (1596–1650). Der portugiesische Neurologe António Damásio (*1944) hat dem entgegengehalten, nicht das Denken, sondern das Gefühl konstituiere das Sein. Seine Kritik an Descartes äussert er pointiert in seinem Buch mit dem Titel: „Ich fühle also bin ich“. Darin zeigt er auf, dass im Geiste der Körper als eine Art Landschaft repräsentiert wird und Gefühle im wesentlichen Veränderungen des Körperzustands widerspiegeln. 

So kann die Brücke zurück zu Rilkes „Weltinnenraum“ geschlagen werden: Meine Bilder sind eine symbolische Darstellung des Weltinnenraums – den wir als Gefühl über einen Körperzustand und als Entgrenzung des Körperlichen erfahren (im Traum, im Rausch, in der Fantasie, in der Meditation oder in der ausserkörperlichen Erfahrung).

Die Vögel fliegen oder ruhen (bereit zum Abflug) vor dem Gitter oder Koordinatensystem, das für die Repräsentation der Körperlandschaft und die damit verbundene Denk- und Gefühlsstruktur im Geist stehen kann.

Im Gitter leuchten Strukturen farbig auf, die wie eine Art Tetris-Bausteine Kontur erhalten und in Korrespondenz miteinander treten. Tetris ist ein vom russischen Programmierer Alexei Paschitnow 1984 fertig gestelltes russisches Computerspiel, welches ich als Kind gespielt habe. In diesem Spiel geht es darum, die Bausteine wie Puzzles zusammenzubringen. Auf diese Art stelle ich mir das Entstehen von Bedeutung im Denken und Fühlen vor.  

Aus dem applizierten Wachs ist jeweils ein Relief gebildet, welches dem Tetris-Baustein eine dreidimensionale, haptisch wahrnehmbare Struktur gibt. Dies stellt die dreidimensionale Repräsentation des Körpers im Geiste dar. Wachs korrespondiert nach meinem Empfinden mit dem Federkleid des Vogels und dem Ikarus-Motiv. Das Gitter repräsentiert insofern die Denkstruktur, welche mit dem Gefühl einhergeht. Daraus kann eine Vorstellung erwachsen, die den Körper transzendiert – die Weite des Weltinnenraums.

Die Symbole Schlüssel und Wolke, Apfel, Ouroboros, Feder, goldene Kugel, Sonnenblume, Holz und Stein sind Archetypen, also „Grundstrukturen menschlicher Handlungs- und Vorstellungsmuster […], psychische Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das menschliche Verhalten und Bewusstsein beeinflussen.“ (Wikipedia)

Die archetypischen Bilder können zum Beispiel im Traum ein Gefühl oder eine tiefe Einsicht manifestieren. Das archetypische Bild steht in Verbindung mit dem Vogel und dem Gitter als drittes Element, welches den Weltinnenraum des Bewusstseins bedeutsam macht.

Weltinnenraum ist aber auch das universale Bewusstsein, die Panpsyche oder Weltseele. Weltinnenraum reicht durch alle Wesen. Und so wie die realen Vögel interkontinental fliegen, sind die idealen Vögel interpsychisch unterwegs – sie stehen für das Allverbindende schlechthin.  

Die Vögel fliegen still durch uns hindurch.